Termineutik ist die Lehre vom angemessenen Verstehen und vom Auslegen von Texten.
Das Neue Testament stellt ein Corpus ursprünglich selbständiger und voneinander
großenteils unabhängiger Schriften dar, die zu einem späteren Zeitpunkt zusammengestellt wurden
und dann als Corpus kanonisiert wurden. Die christliche Literatur setzt also sehr
unspektakulär, kaum beachtet, gleichsam zufällig, mit den Gemeindebriefen des Paulus ein.
Trotzdem werden diese bald Vorbilder und Auslöser weiterer urchristlicher Briefe,
die Paulus Schüler in seinem Namen schreiben. Dadurch entsteht in ein bis zwei Generationen
eine urchristliche Briefliteratur, die nun einen ersten eigenen Sprach-, Verstehens- und
Interpretationsraum darstellt. Die neutestamentliche Briefliteratur lässt sich weitgehend als ein
doppeltes Corpus verstehen, als ein Basiskorpus paulinischer Briefe und als ein erweitertes
Corpus von Verstehens- und Interpretationsanstrengungen zu diesem Basiskorpus. In der urchristlichen
Briefliteratur selbst beginnt also Hermeneutik neutestamentlicher Texte, hier als praktisches
Verstehen als praktische Interpretation. Nun stehen neben der Briefliteratur im Neuen Testament
die vier Evangelien und ich möchte mich ihrer Entstehungs- und Auslegungsgeschichte zuwenden.
Nach dem Tode des Paulus und der bekannten persönlichen Jünger Jesu, das ist der Zeitraum
von circa 42 bis circa 62 oder 64, 20 Jahre, es handelt sich um die Apostel Petrus, um den
Herrenbruder Jakobus und um die beiden Zebedaiden, von deren Märtyrertod wir eben in dem Zeitraum
von 42 bis 62 erfahren, also nach dem Tode des Paulus und seiner großen Mitmissionare,
bildete sich ein weiterer Kern, ein Nukleus christlicher Literatur, das Evangelium. Das
Markus Evangelium verarbeitete umfangreiche Gemeindetraditionen über Jesus von Nazareth
zu einem Buch, das nun die Geschichte des öffentlichen Wirkens und des Todes Jesu
episodisch erzählt. Das Markus Evangelium entstand um 70 nach Christus, also circa zehn
Jahre nach dem Tode der großen Apostel. Sein Verfasser ist nicht namentlich bekannt, es ist
nicht der Petrus Schüler Markus. Zu der in seiner Zeit modernen und erfolgreichen Gattung des Briefes
in der Gestalt des christlichen Gemeindebriefes trat damit eine neue, eine generative Literaturgattung,
die wir unter dem Namen Evangelium kennen. Der Verfasser des Lukas Evangeliums bezeichnet sie
sehr sachgemäß als die Hegesis, das heißt als einen erzählenden und zugleich belehrenden Bericht.
Dieser Jesus Bericht des Verfassers des Markus Evangeliums war der erste uns überlieferte,
dem drei andere noch im ersten Jahrhundert folgten, das kanonische Matthäus, Lukas und
Johannes Evangelium. Die Verfasser dieser Evangelien kannten und benutzen in unterschiedlicher Weise das
Markus Evangelium. So entstand ein zweites komplexes Beziehungs- und Interpretationsfeld dieser
urchristlichen Literatur. Die Evangelien sind Zeugen unterschiedlichster Verstehensvorgänge.
Die Jesuslogien und die Berichte seiner Taten und der Passionsbericht durchliefen schon im
Stadium ihrer mündlichen Tradierung Veränderungsprozesse. Diese Veränderungsprozesse waren Ausdruck
eines jeweiligen neuen Verstehens. Also Traditionsprozesse waren auch hermeneutische Prozesse.
Dasselbe gilt für den Umgang der Verfasser der drei großen Evangelien mit dem Markus Evangelium,
denn das Markus Evangelium ist für seine Nachfolger nicht etwa ein heiliger Text,
sondern eine Informationsquelle, deren Nachrichten über Jesus nach der Maßgabe des Verstehens des
jeweiligen Evangelisten Verwendung und Kommentierung fanden oder aber wegfielen.
Diese beiden literarischen Felder, die neutestamentlichen Briefe und die vier
neutestamentlichen Evangelien stellen also jeweils einen sehr dichten Traditions- aber
auch Interpretations- Zusammenhang dar. Jesus Tradition wurde formiert, tradiert, korrigiert,
redigiert und interpretiert. Paulus formierte selbst die ersten Themen und sprachlichen und
formalen Muster einer christlichen Theologie. Seine Schüler wiederholten, variierten, vertieften
oder verkürzten diese Themen und ihre Sprache. Sie verloren durchaus wichtige und genuine
Paulus-Themen, zum Beispiel die Gerechtigkeit Gottes. Andere fanden sie, so etwas wie das Thema
christliches Leben in einem christlichen Eukos, in einem christlichen Hausverband. Diese Prozesse
von Bewahrung, Benutzung, Veränderung und Innovation sind Facetten unterschiedlicher
Verstehensmöglichkeiten. Einen ganz besonderen Beitrag zum Verstehen innerhalb der
neutestamentlichen Schriften stellen die drei Johannesbriefe dar, mindestens der erste
Presenters
Prof. Dr. Oda Wischmeyer
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:29:22 Min
Aufnahmedatum
1999-12-16
Hochgeladen am
2018-05-08 09:24:23
Sprache
de-DE